Hi,
beiliegenden Brief habe ich Herrn Schär - Verantwortlicher der Nature One - geschrieben. Leider habe ich bis heute keine Antwort erhalten ...
Dieser Vorfall ist mir sehr lange "nachgelaufen" und meine heißgeliebte Nature One hat für mich einen Schatten bekommen.
Lieber Nikolaus Schär,
"NATURE ONE war laut und friedlich. Und für einen Moment auch ganz still. Die Loveparade-Katastrophe war präsent: 21 Freunde fehlten ...
Nun stand in erster Linie Mitmenschlichkeit nebst Gewaltlosigkeit, Toleranz und Open-Mindedness auf der Fahne. Alles Werte, die nie vergessen werden dürfen." (Zitat Homepage Nature One, Unterschrift N. Schär)
Aber auf dieser Nature One mit Füßen getreten wurden:
Samstag, ca. 2.30 Uhr: Classic Floor - hier geht die Post ab. Meine Füße schmerzen, ich brauch' ne Pause. Ein Seitenausgang auf die Wiese, ich gehe drei Schritte und bleibe stehen. Auszeit! Rechts von mir liegt ein junger Mann mit geschlossenen Augen im Gras. Ich kann nicht erkennen, ob alles in Ordnung ist. Bevor ich ihn ansprechen kann, kommen zwei von der Security mit schnellem Schritt auf ihn zu. Ein Mann und eine Frau.
Gut, denke ich mir, dann brauche ich mich nicht zu kümmern. Wenn es Probleme gibt, rufen die bestimmt die Sanitäter. Trotzdem bin ich neugierig und schaue weiter hin. Der etwa 110 Kilo schwere Security-Mann fasst zu. Schüttelt an der Schulter. Für meine Begriffe etwas grob. Findet der junge Mann wohl auch. Er haut zurück. Dann geht es schnell: der Security-Mann rollt ihn auf die Seite und kniet sich seitlich auf die Brust und den Arm. Die Frau und ich gehen dazwischen: "Hör auf!"
Ein Spruch ins Funkgerät und dann der wütende Versuch den auf den Boden liegenden Mann hochzuziehen. Dieser macht sich steif und bleibt einfach liegen, Augen geschlossen, die Hände sind auf der Brust gefaltet, er wippt im Takt der Musik mit.
Ich mische mich wieder ein: "Lasst ihn doch einfach liegen. Bitte! Ihm geht es gut und er hat doch nichts getan." Hoffe, dass sich die Situation klären lässt. Doch nein, ca. 6-7 weitere Securitys eilen heran. Ich versuche es wieder: "Bitte lasst ihn. Er hat nichts getan, es geht ihm gut und er hört einfach nur Musik."
Keiner hört mir zu. Niemand spricht mit mir. Ich fühle mich ohnmächtig.
Inzwischen haben die Männer den jungen Mann gemeinsam auf die Füße gezerrt. Er wehrt sich nicht. Plötzlich springt von hinten jemand an mir vorbei. Von hinten in den Rücken des Mannes, mit dem Unterarm an der Kehle zieht er ihn zurück. Auch Security. Ich gehe dazwischen, denke nur kurz, dass ich bestimmt auch gleich einen Schlag abbekomme. Ich hab' Angst. Auch die anderen Securitys schreiten ein. Etwas Glänzendes fliegt an mir vorbei.
Ich wende mich an einen anderen Security und bitte wieder, den Mann laufen zu lassen.
"Ich hab' hier was zu sagen - und der fliegt jetzt raus!"
"Aber er hat doch nichts getan." Ich kann mich immer nur wiederholen. Fassungslos!
Ich erinnere mich an das glänzende Teil, es ist eine Sonnenbrille. Ich hebe sie auf, die Security-Frau geht an mir vorbei. "Die ist von dem Typen", sage ich und halte ihr die Sonnenbrille hin. Sie nimmt sie nicht, grummelt etwas wie "Schmeiß' weg" und geht zu den Männern. Doch ein anderer kommt zurück und nimmt die Brille. Vielleicht war es seine.
Gemeinsam führen die Männer den jungen Mann ab. Der Arm ist nach hinten verdreht. Ich sehe ihnen hilflos hinterher.
Jetzt habe ich erst recht Angst. Angst davor, dass die Situation komplett außer Kontrolle geraten könnte. Ich gehe langsam hinterher, weiß nicht was ich tun soll. Mein Herz rast. Bäume und Büsche sind im Weg, ich kann kurz nichts sehen. Dann, ich bin noch nicht dort, sehe ich einen Pulk Menschen, der junge Mann wird nach draußen befördert.
Ich nähere mich langsam dem Ausgang. Auch andere sehen hin. Die Security steht innen, der junge Mann draußen vor dem Tor. Er wirft etwas. Der "Chef" geht auf ihn zu und boxt ihm dreimal mit der Faust ins Gesicht. "Jetzt reicht's aber" brülle ich und renne auf ihn zu. "Der beschmeißt uns" erklärt mir der Chef. Ich bin ratlos.
Der junge Mann steht vor dem Tor und schaut reglos zu uns rüber. Ich biete an "wenn ich raus gehe und mit ihm rede, kann ich dann wieder rein oder lasst ihr mich nicht?" Einer verneint, aber der Chef stimmt zu.
Ich gehe auf den jungen Mann zu. Halte mich an meiner leeren Wasserflasche fest.
Mir ist mulmig. Gedankenfetzen jagen durch meinen Kopf. Was mache ich da? Was ist, wenn der jetzt völlig ausrastet? Aus sicherer Entfernung rufe ich ihm zu "Kann ich mit dir reden?" Er antwortet erst nicht, dann "Sorry, mein Deutsch nicht gut. Englisch?"
"Can I talk to you?" - "Yes."
Es stellt sich heraus, dass der Mann aus Belgien kommt und kein Deutsch versteht.
Er hat keine Ahnung, was passiert ist. "I just layed there and was listenig to the music." Er zeigt mir seinen Arm und erklärt, dass er verdreht wurde. Dass seine Lippe blutet, merkt er - glaube ich - gar nicht. Wir unterhalten uns, ich versuche mich in Erklärungen. Entschuldige mich. Und kann das Ganze genauso wenig verstehen.
Sein Wiedereinlassband wurde zerschnitten und ist weg. Für ihn ist die Party gelaufen. Es tut mir unendlich leid. Plötzlich umarmt er mich, Küsschen auf die Wange. „Thank you.“
Wir verabschieden uns, er geht in Richtung Zeltplatz. Ich bin so aufgebracht, dass ich gar nicht mehr mit dem "Chef" sprechen kann. "Der kommt jetzt nicht mehr, oder?", fragt er und ich kann nur sagen "Mit dem kann man ganz normal reden." Ich rausche davon, Adrenalin im Körper, Tränen in den Augen. Später frage ich mich, ob ich doch noch etwas hätte ändern können. Ich zittere, suche meine Leute und kann immer noch nicht glauben, was passiert ist.
Für mich ist der Abend gelaufen. Kann "meine Nature" gar nicht mehr genießen. Gehe noch eine große Runde und sehe viele glückliche Gesichter. Keine Aggression, kein Drängeln. Stolpert man doch mal gegen jemanden: ein Lächeln, 'tschuldigung, alles gut.
Feiere wie immer ohne Alkohol und ohne Drogen - die Musik nimmt mich mit. Heute jedoch nicht. Wir machen uns auf den Weg, ich muss' noch zwei Stunden fahren ...
Ja, wir sind NATURE ONE. Eine große Familie. Und es ist wichtig, Leute zu haben, die auf uns aufpassen.
See you next year.
Liebe Grüße
C.